16. Sept. 1973

Meine lieben Eltern, liebe Liselotte!

Wie versprochen, schreibe ich noch am selben Abend sofort zu euch, obwohl ich schon so müde bin, daß ich gar nicht mehr schauen kann. Bei euch und für mich ist es jetzt nach Mitternacht, aber hier geht gerade die Sonne unter. Der Flug war etwas abenteuerlich, er hat nämlich gleich eine Stunde später begonnen, aber gleich habe ich ein amerikanisches Ehepaar kennengelernt, die sehr lieb waren und sofort alles „lovely“ gefunden, nachdem sie gehört haben, daß ich aus Wien komme. Wir haben viel und wahnsinnig gute Sachen zu essen bekommen und die Zeit ist sehr schnell vergangen. Die Landung in Boston sieht so gefährlich aus, weil die Piste 3 m nach dem Wasser beginnt und man so tief fliegt, daß man glaubt, das Wasser zu streifen. Dann hab ich gleich gemerkt, daß ich in Amerika bin, weil die Polizisten wirklich aussehen, wie die Sherrifs aus einem Western. Ich war schon sehr müde und wie ich Mrs. Wilson gesehen habe, war ich sehr froh. Das muß sie gemerkt haben, denn sie hat mich gleich umarmt. Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen, sie ist sehr nett zu mir. Ich muß mich wirklich erst bei Ihr hier eingewöhnen, denn es ist alles ganz anders.

Wir wohnen etwas außerhalb in einem „vornehmen“ (kein Spaß!) Viertel. Die Häuser sehen wie in den Filmen aus: mit Gärten, Holzverandas und Schiebefenster. Und natürlich einen großen Wagen vor der Tür. Die Wohnung selbst ist zwar alt, aber sehr groß und wirklich hübsch. Ich habe ein eigenes Zimmer mit Schreibtisch, Kommode, Stehlampe, Tisch, Zentralheizung, Bett und außerdem hat es einen kleinen Nebenraum, eine Garderobe, wo lauter Haken und Fächer sind, in dem man alles unterbringt. Ich habe mich schon häuslich eingerichtet und gebadet (das Bad ist ganz toll!). Eine Katze gibt es auch hier. Liebe Liselotte, vielen Dank für das Buch, ich hätte fast, nur fast!, geheult und auch Mrs. Wilson war ganz gerührt. Es ist hier richtig Sommer, alle kommen vom Segeln oder schwimmen und darüber bin ich froh, weil ich heuer sowieso keinen Sommer hatte. Im nächsten Brief werde ich genauer berichten. Bitte ruft Erni und Renate an, ich bin schon so müde.

Viele liebe Bussi an euch alle,
macht euch keine Sorgen, Martina