Lieber Papa, liebe Mama !
Zuerst vielen Dank für den Brief, hier wird auch Samstag Post ausgetragen, deshalb geht es manchmal schneller und ich bekomme eure Briefe schon nach 5 Tagen. Ich muß jetzt endlich einmal gleich alles schreiben, was ich in den anderen Briefen vergessen habe. 1. Von Horst habe ich gleich am 2. Tag nach meiner Ankunft einen Brief bekommen! Ganz „Liebe und Waschtrog“, ich habe etwas kühl zurück geschrieben und seitdem nichts mehr von ihm gehört. 2. Am Montag nach meiner Ankunft habe ich gleich die Regel gekriegt (das ist eigentlich nichts interessantes für Papa).
Boston ist der Name vom eigentlichen Stadtkern. Rundherum sind aber weitere „Städte“ und alles gehört eigentlich zusammen, ich meine, es ist kein Zwischenraum. Wir wohnen in Cambridge, weil da die Universität ist, und das ist eigentlich der schönste Teil. Desshalb stimmt es auch nicht, daß Boston eine kleine Stadt ist, wenn man alles zusammen nimmt. Wenn ihr aber von „Negerunruhen“ in Boston lest, dann merkt man hier gar nichts. Ich weiß nur, daß eine junge Frau in Boston ermordet wurde, und das schiebt man jetzt den Negern in die Schuhe. Die sind wirklich arm, weil sie die ganze Drecksarbeit machen müssen, wie bei uns die Gastarbeiter. In Boston gibt es auch Hochhäuser, eines davon, das höchste, ist Wahrzeichen von Boston, „Prudential Center“, es hat 50 Stock- werke und vergangene Woche war ich ganz oben!
Gerade habe ich eine Nachricht erhalten, daß ihr mir 270 $ überwiesen habt. Das ist sehr viel und vielen, vielen Dank dafür! Ihr braucht mir jetzt lange nichts schicken, denn ich verdiene inzwischen selbst schon etwas mit Baby-sitten. Heute abend mache ich das auch wieder, das ist sehr angenehm, weil es nur 10 min. von hier entfernt ist und wenn ich die Kinder ins Bett transportiert habe, kann ich lesen. Die Mutter bringt mich dann auch mit dem Auto bis vor die Tür.
Die Flughafengeschichte haben wir im TV verfolgt, die Leute sind ein bißchen aufgebracht darüber (es gibt hier viele Juden) und einmal hat man Kreisky im TV ge- sehen. Sein Englisch war haarsträubend und es wird immer betont, daß er selbst Jude ist.
Von Liselotte habe ich noch keinen Brief. Als ich von der ganzen Misere las, war ich ganz entgeistert und hab direkt gezittert. Ich kann mir vorstellen, daß sie nichts spricht, aber leider kann man sie nicht dazu zwingen, obwohl ihr das guttun würde. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß die zwei nicht mehr zusammen sind und hoffe sehr, daß sie sich in Jugoslawien wieder zusammen raufen. Macht euch nicht zu viele Sorgen.
Heute habe ich mir eine Mitgliedskarte in der Bibliothek von der Universität besorgt. Jetzt kann ich jederzeit dorthin gehen lesen oder Bücher ausborgen. Ich bin schon gespannt auf unser neues Auto! Das ist ein Plan von meinem Zimmer, damit ihr es euch vorstellen könnt. Von Irma habe ich schon einen Brief erhalten.
Viele liebe Bussi an euch
alle, inclusive Großmutter, Resi-
Tante usw., usw.
Eure Martina